Adventsgebäck

Es war mal wieder so weit, wie jede Woche stand ich in einer Nebenstraße hinter dem großen Bahnhof. An den Haupteingängen war der Versuch unternommen worden, sie weihnachtlich zu schmücken. Auf dieser Seite der gläsernen Halle glimmten nur Zigaretten im dunklen Schneeregen.
Hoffentlich ließ mich mein Stammfahrgast nicht so lange warten. Der Platz war zu trostlos und zu traurig.
Viktor Hugo fiel mir ein, die Elenden.
Überall sah ich sie, die verhärmten, pickligen Gestalten der Strichjungs, wie sie mit gehetzten Blicken nach Hoffnung Ausschau hielten, die es nicht gab. Nur ab und zu tauchte ein Kunde in der Dunkelheit auf, der für das nächste Essen oder den nächsten Traum sorgte.
Quietschende Bremsen rissen mich aus meinen Gedanken. Idiot, dachte ich, denn neben mir hatte ein Lieferwagen so eingeparkt, dass weder ich noch er die Türen öffnen konnten.
Die Scheibe des Idioten fuhr herunter.
Er fragte mich, ob er denn so stehen bleiben könne.
Ich antwortete nicht und schüttelte nur wütend den Kopf.
Entmutigen ließ sich der Idiot nicht, denn er quetschte sich aus seinem Wagen und trotz meiner verneinenden Rufe, mein Auto nicht zu öffnen, saß er plötzlich auf dem Rücksitz meines Taxis.
Bevor ich mich richtig aufregen konnte, verwickelte mich der Fahrer des Lieferwagens, den ich dann doch nicht mehr so idiotisch fand, in ein Gespräch.
Gespräch ist falsch, es war ein netter Monolog, durchsetzt mit einigen Fragen nach meiner Person.
Doch was ging ihn mein Alter an und ob ich einen Mann hätte?
Als wir bei seinem miesen Eheleben, den Schulden, der untreuen Frau und all den anderen Dingen, die zu dieser Jahreszeit und bei diesem Wetter das Leben eines Lieferwagenfahrers schwer machen konnten angekommen waren, wurde mein Blick von einer Person im Regenmantel gefesselt, die reihum zu den Strichjungens ging und irgendetwas aus einer großen Tüte feil bot.
Meine Neugier war geweckt.
Was sich auch immer in der Tüte befand, niemand nahm es an.
Die Gestalt im Regenmantel kam auf mein Auto zu, klopfte gegen die Scheibe und fragte mich, ob ich Adventsgebäck wolle. Dankend nahm ich dem jungen Mann, der von irgendeiner Hilfsorganisation gesandt  wurde, um den Notleidenden Weihnachtskekse zu bringen, eine Tüte ab. Als er bemerkte, dass sich in meinem Wagen noch eine Person befand, witterte er die Chance, noch ein Beutelchen los zu werden. Doch mein uneingeladener Insasse lehnte ab. Seiner Meinung nach sollten wir uns die eine Packung teilen. Die Situation begann mich zu belustigen.
Der Keksverteiler trottete von dannen. Seine Gestalt war kaum in der Dunkelheit verschwunden, da setzten sich andere Schatten in Bewegung und wenig später klopfte es wieder an meine Scheibe.
Einer der Stricher wollte wissen ob man die Kekse essen könne und wenn er gewusst hätte, dass ich welche nähme, hätte er auch welche genommen.
Aber nun war es zu spät. Der junge Mann mit dem Gebäck war gegangen.
Ich gab dem traurigen Strichjungen den Rest meiner Kekse.
Endlich, ich wurde aus dieser eigenwilligen Situation befreit.
Mein Fahrgast kam. Ich stieß zwei, drei Meter zurück und er nahm neben mir auf dem Beifahrersitz Platz.
Hellere Gedanken kamen mit helleren Straßen.
Viel zu schnell für dieses Wetter schoss ich durch die Stadt mit ihren geschmückten Bäumen, Weihnachtssternen und den Lichterketten.
Vierzehn Stunden hinterm Steuer sind eine lange Zeit.
Wir unterhielten uns. Die Reise meines Fahrgastes war angenehm verlaufen.
Als ich ihn zuhause absetzte, wünschte er mir eine gute Fahrt, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben.
Ein Glück meine letzte Tour. Jetzt hatte ich nur noch den Heimweg vor mir.
Mit jedem Meter, mit dem ich meinem Ziel näher kam, wuchs eine innere Unruhe in mir; was hatte ich vergessen?
Polternd breitete sich der vertraute Klang meiner Reifen auf dem Kopfsteinpflaster in meiner Straße aus. Trotzdem, das beruhigende Rumpeln konnte den Gedanken an eine vergessene Sache nicht auslöschen.
Ich bog zu meiner Garage ab. Endlich, so viele Stunden. Schneeregen prasselte auf das Autodach. Konnte sich das Tor nicht schneller öffnen?
Was hatte ich nur vergessen?
Noch einmal startete ich den Motor, um in die Garage zu fahren. Mit der diffusen Beleuchtung kam auch plötzlich die Erinnerung.
Erstaunt drehte ich mich nach meinem Rücksitz um.

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